Falter-Radio:

Frankreich am Abgrund?

Gespräch über die anhaltende Massen-Mobilisierung der Gewerkschaften gegen Macrons Pensionsreform. Unter der Leitung von Raimund Löw diskutieren Joelle Stolz und Danny Leder

1.4.2023

 

Über die spektakuläre Bewegung der französischen Gewerkschaften gegen Macrons Rentenreform wird zwar laufend berichtet, in der obigen Diskussionsrunde wurden aber Faktoren beleuchtet, die möglicherweise ansonsten übergangen werden.

Zu den allgemein weniger beachteten bzw. verstandenen Aspekten, die ich ansprach, gehört u.a.:

·       * Dass zwar die Anhebung des Rentenantritts-Alters von 62 auf 64 Jahre, laut Umfragen, von zwei Drittel der Franzosen/zösinnen (und 80 Prozent der noch Erwerbstätigen!) abgelehnt und die Streik-Bewegung im gleichen Ausmaß unterstützt wird, dass aber gleichzeitig ein ebenso großer Prozentsatz der Bevölkerung NICHT daran glaubt, dass die Streiks und Demos zum gewünschten Erfolg, also einem Verzicht von Macron auf diese Maßnahme, führen werden. Und dass (bisher) nur eine überschaubare Minderheit der französischen Arbeitnehmer an den Streiks beteiligt bzw. beteiligen kann. Warum das so ist, erkläre ich auch in dem Gespräch.

·       * Dass einer der Hauptgründe für diese außergewöhnlich breite Ablehnung der Anhebung des Pensionsantrittsalters in üblen Arbeitsbedingungen und einem toxischen Arbeitsklima zu suchen ist, denen ein beträchtlicher Teil der Arbeitnehmer in Frankreich ausgesetzt ist (Frankreich ist bei Burn-Outs und Arbeitsunfällen einer der europäischen Spitzenreiter). Bezeichnenderweise sind mir dazu Satzfetzen aus einem Qualtinger/Bronner-Song (verfasst 1957) eingefallen, die auf seltsame Weise wieder hoch aktuell sind und wohl besonders in Frankreich, aber nicht nur: „Bei der Oarbeit sekkiert di der Master und die andern verbogenen Gfraster – Deine Nerven wern langsam verdraht… Und auf d’Nacht, wenn der Mensch wieder frei is, und die scheußliche Arbeit vorbei is…“

·      * Das ist eine gute Überleitung zu folgendem: es stimmt auch nicht, dass sich in anderen europäischen Staaten die Arbeitnehmer mit der Anhebung des Pensionsantritts-Alters einfach abgefunden hätten bzw. dass der teilweise Defacto-Abbau sozialer Errungenschaften und die zunehmende Prekarisierung der Arbeitswelt einfach geschluckt worden wären. Es ist nur so, dass sich der „untere“ Teil der Mittelschichten (also finanziell weniger gut situierte Haushalte und Menschen, die in ihrem Beruf kaum eine Erfüllung sehen können), für die erlittene Verschlechterung ihre Lage in unterschiedlicher Weise rächen: etwa in GB durch den Brexit, in den USA durch die Unterstützung für Donald Trump, in Italien durch die Wahl der Rechtsregierung unter Meloni und in Österreich durch das Abdriften zur FPÖ. Womit ich nicht sagen will, dass all diejenigen, deren Lage sich verschlechtert, notgedrungen nach rechts-außen driften. Der Beweis ist der (zumindest einstweilige) Aufschwung der durchwegs anti-rechten französischen Gewerkschaften.  

·       * Dass es sich, grob gesprochen, in Frankreich um eine Dauerkrise handelt, die vom Gelbwesten-Aufstand 2018/19 (während 52 Wochen, ebenfalls mit Mehrheits-Unterstützung in der Bevölkerung) bis zur jetzigen Bewegung reicht.

·       * Und schließlich ist es ein Irrtum anzunehmen, dass Macron „sich verrechnet“ hätte und die jetzige Ablehnungs-Welle seiner Reform „nicht vorausgesehen“ hätte. Vielmehr hat der französische Staatschef diese Kraftprobe in voller Kenntnis der Risken in Kauf genommen und angesteuert. Macron ist davon überzeugt, dass er die französische Bevölkerung (die er mehrfach, sinngemäß, als änderungs-unwillige und widerspenstige Gallier eingestuft hat) quasi bändigen muss, um das Land in der EU und auf dem Weltmarkt wieder in ausreichendem Maß wettbewerbsfähig zu machen. Auf diesem Weg hat Macron auch erste Erfolge verzeichnet, etwa bei der Senkung der chronisch hohen Arbeitslosigkeit und einer gewissen Ankurbelung der Investitionen in der darbenden französischen Industrie. Er hat auch phasenweise substanzielle Finanzhilfen und neue Sozialstützen für die schlechter gestellten Teile der Bevölkerung gestreut. Aber den weiterhin abstiegsgeplagten Bevölkerungskreisen erscheint das als unzureichend, und Macrons gleichzeitige und symbolträchtige steuerpolitische Maßnahmen zu Gunsten von Spitzenverdienern und Unternehmern werden ihm als schweres Unrecht angelastet. Wobei Macrons Rückgriff auf einen Sonderparagrafen zwecks Umschiffung einer normalen Parlamentsabstimmung (bei der seine Rentenreform vermutlich nicht die nötige Mehrheitszustimmung bekommen hätte) die Empörung abermals hochgetrieben hat.

Bei Anwendung des nämlichen Parlaments-Paragraphen gilt das von der Regierung eingebrachte Gesetz als ratifiziert, es sei denn die Opposition bringt einen Misstrauensantrag gegen die Regierung ein, dem eine Abgeordnetenmehrheit dann auch zustimmt – was derzeit unwahrscheinlich ist, weil namentlich die oppositionellen Linksparteien sich zum Glück auf kein gemeinsames Votum mit dem „Rassemblement national“ von Marine Le Pen einlassen. Dieser Paragraph ist in der Vergangenheit von Regierungen aller Schattierungen x-mal angewendet worden. In der jetzigen Debatte um die Pensionsreform erscheint aber dieses Manöver als eine besonders grobe Missachtung des Mehrheitswillens (im Parlament und in der Bevölkerung).

Für Macron handelt es sich allerdings um den einzigen Ausweg, um überhaupt weiter regieren zu können, weil seine Partei und ihre Verbündeten bei den Parlamentswahlen im Juni 2022 keine absolute Mandatsmehrheit mehr erringen konnten. Zwar wurde noch knapp zuvor, im April 2022, Macron als Staatspräsident wieder gewählt, dieser Sieg gelang ihm aber nur, weil er sich bei der Stichwahl mit Marine Le Pen duellierte, und viele linke Wähler nolens volens nochmals für ihn stimmten. Außerdem wurde bei der damaligen Parlamentswahl eine Wahlenthaltung von 54 Prozent verzeichnet, bei den Unter-34-Jährigen kletterte die Wahlabstinenz gar auf 70 Prozent, ähnlich hoch lag die Enthaltung bei den sozial schlechter gestellten Berufskategorien. Die „Assemblee nationale“ ist demnach vor allem das Abbild der älteren und sozial besser gestellten Schichten – ein Megaproblem für den Fortbestand der repräsentativen Demokratie.

Ebenfalls in einem „Falter-Podcast“ nach den französischen Parlamentswahlen im Juni 2022 hatte ich die Vermutung geäußert, Frankreich sei durch dieses Wahlergebnis über kurz oder lang „unregierbar“ geworden. Jetzt ist dieser Zustand vermutlich erreicht.

Danny Leder