Erscheinungshinweis:
Im Jahrbuch "Das jüdische Echo", Ausgabe 2024
Reportage in Sarcelles, dem "kleinen Jerusalem" der Pariser Banlieue
Sarcelles, die erste Plattenbaustadt an der äußersten Peripherie von Paris, galt als Melting Pot mit einer starken Präsenz jüdischer und muslimischer Familien aus Nordafrika. Aus dem Miteinander ist ein fragwürdiges Nebeneinander geworden.
Interview mit Patrick Haddad - Der Drahtseilakt eines Banlieue-Bürgermeisters
Wie Patrick Haddad, sozialistischer Bürgermeister von Sarcelles, den besorgten Jüdinnen und Juden seiner Stadt wieder Hoffnung einflößen, dem vollständigen Abgleiten der ethno-religiösen Gemeinschaften in Parallel-Gesellschaften entgegen steuern und vor allem die Armut bekämpfen möchte.
Die Satellitenstadt Sarcelles wurde zu Beginn der 1960er Jahre fertiggestellt. Diese „Ville nouvelle“(Neustadt) war die allererste am Reißbrett entworfene Ansammlung von linearen Plattenbausiedlungen an der äußersten Pariser Peripherie und galt daher als Inbegriff der monotonen „Beton-Banlieue“.
Außerdem erwarb sich Sarcelles durch die Ansiedlung von tausenden jüdischen Familien aus dem Maghreb den Ruf eines „kleinen Jerusalems der Pariser Banlieue“. Dank des ursprünglich eher problemlosen und engen Zusammenlebens von Juden und Muslimen, aramäischen Christen aus dem Nahen Osten und Türken, Einwanderern aus den französischen Karibik-Inseln (Antilles) und dem subsaharischen Afrika galt Sarcelles auch als gelungenes Melting-Pot. Aber aus dem Miteinander ist inzwischen ein fragwürdiges Nebeneinander geworden.
Der jüngste Krieg zwischen der Hamas und Israel hat (bis zum Erscheinen des vorliegenden Artikels im April 2024) vor Ort zu keinen nennenswerten Zwischenfällen geführt. Aber die jüdische Bevölkerung ist auf der Hut, namentlich seit Juli 2014, als es während des vormaligen Kriegs zwischen Gaza und Israel, ausgerechnet in Sarcelles zu einem gewalttätigen Aufmarsch von tausenden pro-palästinensischen Demonstranten aus dem gesamten nördlichen Pariser Vororte-Gürtel kam. Ein Teil der Demonstranten versuchte damals die Große Synagoge von Sarcelles zu stürmen. Nachdem sie bei diesem Vorhaben an einem massiven Polizei-Kordon (und einer dahinter befindlichen Gruppe junger Juden) gescheitert war, ergoss sich die wütende Menge auf anliegende Straßen, wo sie Geschäfte, die sie als „jüdisch“ einstufte, verwüstete und darin Feuer legte.
Die einst über die ganze Neustadt verteilte jüdische Bevölkerung lebt inzwischen zum Großteil in einigen wenigen Straßenzügen, wo sich jüdische Gebetshäuser orthodoxer Ausrichtung, konfessionelle Schulen, koschere Gaststätten und Metzgereien konzentrieren, und (wie auf Seiten der Muslime) eine strikte und auffällige religiöse Praxis überwiegt.
Dieses abgeschottete jüdische Refugium in Sarcelles und Umgebung hat wiederum orthodoxe jüdische Familien frisch angezogen, die aus den übrigen, für sie unsicheren Vororten massiv abgewandert sind oder aus dem inneren Paris wegen der Verteuerung des Wohnraums ausziehen mussten.
Weil Sarcelles deswegen als eines der letzten, noch erhaltenen Symbole jüdischer Präsenz im Pariser Großraum firmiert, kamen Frankreichs Innen- und Unterrichtsminister drei Tage nach dem 7.Oktober 2023 zu einem spektakulären Besuch nach Sarcelles, um die Entschlossenheit des französischen Staats bei der Abwehr von Angriffen auf Juden zu unterstreichen.
Empfangen wurden die Minister damals von Patrick Haddad, dem sozialistischen Bürgermeister von Sarcelles. Mit ihm führte ich ein ausführliches Interview. Haddad, der aus einer aus Tunesien eingewanderten jüdischen Familie stammt, will den besorgten Juden seiner Stadt wieder Hoffnung einflößen, dem vollständigen Abgleiten der ethno-religiösen Gemeinschaften in verfeindete Parallelgesellschaften gegensteuern und vor allem die Armut bekämpfen.
Haddad amtiert in demselben Büro, in dem einst auch der (später skandalumwitterte und gestrauchelte) Hoffnungsträger der französischen Linken, Dominique Strauss-Kahn, als Bürgermeister tätig war. Im Vorjahr hat Haddad ein Buch über seine Erfahrungen als Rathauschef in einer Pariser Banlieue veröffentlicht: „Nos racines fraternelles“ (Editions Philippe Rey, Paris).
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